R. zählt Schafe
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Horst Willenberg
Essen und Bielefeld
* 1954
Künstlerisch tätig seit 1968
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Roland zählt Schafe

„Es wirkte alles sorglos, überschaubar. Die blökend weidende Schafherde am gegenüberliegenden Flussufer ließ die Kaserne und das Übungsgelände des 22. Pionierbataillons fast ländlich erscheinen. In den ersten Augenblicken schienen es mir nur ein, zwei Dutzend grasende Schafe zu sein. Ich ließ mich zu der Rast, zu der ich mich von der Szene auffordern ließ, gerne nieder.

 

Anfangs sah ich kein Muster in den Laufbewegungen und das Blöken klang einfach nur chaotisch. Auch das Fehlen von Menschen oder auch nur Hirtenhunden war mir anfangs nicht bewusst. Je ruhiger mein Atem und mein Herzschlag wurden, desto aufgeregter erschienen mir die Schafe. Immer mehr Gruppen von bis zu zwei Handvoll Schafen wurden mir gewahr. Einige von Ihnen drängten sich an einem Steilufer eines kurzen Seitenarmes und blökten sich gegenseitig an, nicht zu drängeln. Zwar sei der Rasen am Hang grüner als alles andere Gras, aber in der Enge könne auch mal jemand ins Wasser fallen. Die, die das frische Rasengelände nur rochen, widersprachen denen, die sie zurückhalten wollten, um selbst gefahrlos an die Reihe zu kommen. Inzwischen sprach sich bei den abseits weidenden Schafen schnell herum, dass eine Gruppe Außenseiter neuen Weidegrund für sich in Anspruch nehme, ohne teilen zu wollen. Die zum Konfliktherd strebenden Schafe machten mit ununterbrochenem Blöken klar, dass sie die neue Elite nicht akzeptieren würden und drängten mit aller Macht in den Ereigniskessel.

 

Die selbsternannten Statthalter des Hangweidegrundes griffen nach kurzer Beratung zur religiösen Kriegsführung. Botschafter liefen zur weit abseitsstehenden Hauptherde und kündeten von der Respektlosigkeit der Angreifer gegenüber der heiligen Stätte, die doch schon immer ein Ort des Friedens gewesen sei und baten alle Rechtgläubigen um Unterstützung. Schon bald eilten Gruppen Gläubiger zum geweihten Ort, um die Priester vor den Übergriffen der Barbaren und Heiden mit Leib und Leben zu schützen. Die Stimmen einzelner, noch besonnener Schafe gingen unter in dem wilden Blöken der zum Kampf entschlossenen. Doch nun sandten auch die Angreifer Boten zu den abseitsstehenden Gruppen um Anhänger zu gewinnen. Ein heiliger Bürgerkrieg – um 10 Quadratmeter niedergetrampelten Rasen in gefährlicher Hanglage – schien unausweichlich.

 

Doch zwischen dem Schlachtblöken drangen Stimmen durch, dass nur die Große Herde stark sei und es gewiss einen Sündenbock gäbe, der dies alles eingebrockt habe.

 

Es ist ein seltsames Gefühl, von Dutzenden über Dutzenden sowieso schon fremdartig dreinblickender Schafe angestarrt zu werden. Als die Schafe einfach mit Ihrer Masse den Zaun des Pionierbataillons eindrückten und begannen, Brückenpontons zur Flussfurt gegenüber meinem Standort zu schieben, dämmerte mir, wen die Anführer obskurer weise als Sündenbock auserkoren hatten. Ich fing an um Hilfe zu rufen, denn ich saß paralysiert und konnte nicht einmal aufstehen um davonzulaufen. Die Brücke wuchs blitzschnell auf mich zu und Hunderte von bleckenden Schafgebissen…“

 

„Roland, Roland, Roland!“ Sabine schien völlig unbeeindruckt. „Und Du willst mir nun wirklich einreden, dies sei nur geschehen, weil ich Dir „Schäfchen zählen“ gegen Deine Schlaflosigkeit empfohlen habe?“

Sommer 2010 / Schloss Corvey